Interviews mit Systemiker:innen

Aus 9 Interviews mit systemisch arbeitenden Psychotherapeut:innen haben wir spannende Erkenntnisse gewonnen, wie TONI als verfahrensübergreifende Intervention gestaltet werden sollte. In diesem Blogeintrag geht es darum, wie ihr Input die Entwicklung von TONI beeinflusst hat.

 

Im Frühsommer 2022 geht mit TONI eine diagnose- und verfahrensübergreifende Intervention online, die im Rahmen der ambulanten psychotherapeutischen Praxis eingesetzt werden kann. Verhaltenstherapeutische Online-Interventionen sind gut erforscht. Auf Grund der Literatur können wir einen guten Einblick bekommen, wie Verhaltenstherapeut:innen zu Blended Care stehen und welche Anforderungen sie an Online-Module haben. Im Vergleich dazu gibt es keine systemischen Online-Interventionen. Auch fehlen Studien dazu, welche Anforderungen und Wünsche systemische Psychotherapeut:innen überhaupt an Online-Module haben.

Deshalb befragten wir 20 Psychodynamiker:innen und 9 Systemiker:innen dazu, wie TONI aufgebaut sein müsste, welche Inhalte sie als wertvoll erachten und welche Aspekte wir bei der Entwicklung von Online-Modulen für das jeweilige Verfahren berücksichtigen sollten. Ihre Anregungen begleiteten den gesamten Entwicklungsprozess von TONI. 

Im aktuellen Blogeintrag fassen wir zusammen, welche Impulse die 9 befragten systemisch arbeitenden Psychotherapeut:innen gaben. Die Befragten waren durchschnittlich 49 Jahre alt (Range: 25-70). 67% von ihnen sind weiblich.

Wie sind wir methodisch vorgegangen? 

Alle Interviews wurden im Rahmen einer Masterarbeit mit einem Leitfaden durchgeführt. Anschließend wurden die verschriftlichten Interviews mit Hilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) analysiert. Dabei wird in mehreren Durchläufen ein Kategoriensystem erstellt, mit dem man die Zitate inhaltlich strukturieren und auswerten kann. Dabei wählten wir ein induktiv-deduktives Vorgehen. Das bedeutet, dass sich einige Kategorien direkt aus dem Interviewleitfaden ableiten lassen und andere durch das Gesagte der Interviewten. Insgesamt wurden alle Interviews in vier Durchläufen kategorisiert, bis ein finales Kategoriensystem feststand. Das finale Kategoriensystem umfasste insgesamt 48 Kategorien zu den Themen: Material und Übungen, die die Befragten bereits in ihrer Arbeit zur Beschäftigung zwischen den Sitzungen einsetzen; Anforderungen, Vor-, Nachteilen und möglichen Inhalten vorgegebener Online-Module. In einem letzten Schritt prüften zwei TONI-Mitarbeiterinnen die Intercoder-Reliabilität. Dieser Wert zeigt, wie hoch die Übereinstimmung zwischen beiden ist, wenn sie unabhängig voneinander die gleichen Interviews kategorisieren. Mit einem Kappa von .97 ist dieser Wert als sehr hoch zu bewerten.
Welche Anforderungen stellen Systemiker:innen also an Online-Interventionen wie TONI?
Eine zentrale Anforderung an Online-Module sei erstens die Interaktivität: die Module sollten nicht nur klassische Psychotherapieinhalte in digitalisierter Form anbieten, sondern dynamisch auf Nutzende reagieren. TONI umfasst daher Audios, Videos, interaktive Übungen und Quizzes. 

Wichtig sei auch, dass die Einbettung der Online-Module mit den persönlichen Psychotherapiesitzungen gut abgestimmt sein sollte. Um diese enge Verzahnung zu stärken, stellt TONI Impulsfragen nach jedem inhaltlichen Abschnitt, die eine Brücke zur Psychotherapie schlagen

Alle Interviewten wiesen darauf hin, dass Individualisierbarkeit eine große Herausforderung an Online-Inhalte stellen würde. Eine Annäherung daran könne erreicht werden, wenn eine Vielzahl an Angeboten gemacht würde, aus denen sowohl Psychotherapeut:innen als auch Patient:innen wählen könnten. Deswegen gibt es in TONI 12 Module mit insgesamt 40 Kapiteln. Die Kapitel können unabhängig voneinander flexibel gewählt werden: So kann ein maßgeschneidertes, bedarfsspezifisches Angebot an Inhalten gemacht werden. Psychotherapeut:innen entscheiden, wann sie welche Kapitel wie in ihre Therapie einbinden.

Aus systemischer Perspektive sollte die Interaktion mit dem Umfeld auch bei Online-Inhalten nicht zu kurz kommen: Nur im Kontakt mit dem eigenen System können nachhaltige Veränderungen angestoßen werden. In TONI gibt es mit dem Modul „Zusammenarbeit“ ein ganzes Modul, zu dem Patient:innen eine nahestehende Person einladen und mit dieser gemeinsam Inhalte bearbeiten können. In diesem Modul finden sich auch Hinweise, wie Gespräche im direkten Kontakt wertschätzend gestaltet werden können.

Schnell wurde in den Interviews klar: auf die Sprache kommt es an! Zur ressourcenorientierten, einladenden und ermutigenden sprachlichen Gestaltung durchliefen alle TONI-Inhalte viele Feedbackschleifen und Lektorat durch verschiedene Psychotherapeut:innen, Patient:innen sowie einen Antidiskriminierungsexperten.

Über die Stellschraube der Sprache können weiteren Anforderungen begegnet werden, die aus Perspektive der systemischen Psychotherapeut:innen wichtig seien.

Zum einen sollte eine generelle ressourcenorientierte Perspektive angeboten werden: „Ich erleb das immer wieder, dass Patient:innen doch sehr defizitorientiert geprägt sind. [Online-Anwendungen sollten helfen,] irgendwie ihnen zu verdeutlichen, dass Symptome auch eine Lösungsstrategie ihres Systems sein können“. Ressourcenorientierung sollte sich jedoch auch in Wortwahl und Framing von Inhalten zeigen, beispielsweise in gezielten Fragen nach positiven Erlebnissen oder Veränderungen.

Neben der Ressourcenorientierung seien dies die Achtung von Autonomie und Perspektivenvielfalt. Um der Autonomie und Autopoieses gerecht zu werden - also der Annahme, dass Systeme sich selbst organisieren und in der Psychotherapie nur Angebote gemacht werden können – sind alle TONI-Inhalte als Vorschläge formuliert. Patient:innen sind eingeladen, nach jedem Element zu reflektieren, ob sie den Inhalten etwas abgewinnen können. In einigen Themenbereichen, wie im Modul „Achtsamkeit“ macht TONI eine Vielzahl von Vorschlägen, aus denen Patient:innen selbst aussuchen können, was zu ihnen passt.

Zuletzt sollten Sprache und Inhalt der Online-Module Perspektivenvielfalt zulassen. Beim Verfassen der TONI-Texte haben wir uns bemüht, keine „Wahrheitshoheit“ zu beanspruchen. Darüber, wie nützlich – oder eben weniger nützlich - Patient:innen die Inhalte finden, soll es „einen Austausch und durchaus auch eine Vielstimmigkeit geben [dürfen]“.  Dass TONI-Inhalte in den ambulanten Psychotherapieablauf eingebettet sind, ermöglicht eben diesen Austausch.

Neben diesen übergreifenden Anforderungen, hatten die systemischen Psychotherapeut:innen auch Ideen für ganz konkrete Techniken, wie paradoxe Impulse zu geben oder Patient:innen um Skalierungen oder die Erstellung eines Genogramms (in TONI: „Familienbaum“) zu bitten.

Der Input der Interviewten war an vielen Punkten im Prozess der Entwicklung von TONI entscheidungsleitend. Der enge Einbezug systemischer und psychodynamischer Psychotherapeut:innen ermöglichte die Gestaltung von TONI als eines der ersten verfahrensübergreifenden Online-Konzepte zur Unterstützung der Psychotherapie. Im weiteren Verlauf werden Akzeptanz, Machbarkeit und Wirksamkeit der Intervention untersucht.

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